Einführung in Jnana Yoga

Jnana Yoga ist der Yoga-Weg des Erkennens. Jnana bedeutet Einsicht, Erkennen,  eine höhere Form des Wissens. Jnana ist ein tieferes Wissen als ein ledigliches Akkumulieren von Fakten. Jnana ist ein existentielles Erkennen; das „Kopfwissen“ wird sozusagen zum „Herzwissen“. Es genügt im Jnana Yoga nicht, die Wahrheiten rein intellektuell, verstandesmäßig aufzunehmen: Wissen und Kennen stehen nur auf der ersten Stufe; die letzte und höchste Stufe des Jnana Yoga ist eine tiefe Einsicht in die Natur der Dinge, eine Einsicht, die tief in unser Wesen „eingraviert“, zum Teil unseres Wesens wird: Denken, Fühlen, Verstehen, Handeln, alles wird durch dieses tiefe Erkennen von Grund auf verändert.


Erst wenn dies geschieht, wird der Jnana-Yoga Früchte bringen. Dies aber, wie die Yoga-Autoritäten behaupten, schneller als auf jedem anderen Weg. Jnana Yoga wird als der schwierigste Yoga-Weg bezeichnet, sozusagen der steilste (und kürzeste) Weg auf den Berg der Verwirklichung, auf dem Achtsamkeit, klares Erkennen und gutes Abstraktionsvermögen vorausgesetzt wird.


Jnana Yoga beschreibt ein Weltbild, das uns helfen soll, uns im täglichen Leben zu orientieren, die Dinge im rechten Licht zu sehen und uns entsprechend diesem Erkennen richtig zu verhalten. Es wird das Erkennen der wahren Zusammenhänge von Mensch, Geist, Welt, Gott und den herrschenden Gesetzen angestrebt.


Während im Westen die Bereiche von Philosophie, Wissenschaft und Religion relativ eigenständige und voneinander weitgehend unabhängige Disziplinen sind, sind in Indien die Übergänge zwischen diesen Disziplinen wesentlich fließender. Dieses enge Verwobensein und Verbinden von Philosophie, Wissenschaft und Religion hat in der indischen Tradition nicht das Ziel abstrakten Erkennens, sondern, das höchste Ziel des Menschseins klar zu erkennen, zu beschreiben sowie gangbare Wege aufzuzeigen, die den Menschen zu diesem Ziel führen. Für den Inder ist Philosophie nicht eine Sache abstrakten Wissens und eine Art Gehirnakrobatik, sondern wird unter dem praktischen Gesichtspunkt des täglichen Lebens betrachtet. Lebensphilosophie und ihr Umsetzen im Alltag sind hier aufs engste verknüpft.


Es gilt im Yoga und insbesondere im Jnana Yoga, klar zwischen der Wirklichkeit und der Beschreibung der Wirklichkeit zu unterscheiden. Aus mangelndem Unterscheiden zwischen Wirklichkeit und Sichtweise der Wirklichkeit entstanden und entstehen ebenso endlose wie sinnlose, weil nicht zielführende Debatten (bis hin zu Religions- und Glaubenskriegen).


Die Wirklichkeit, die Jnana Yoga zu erkennen und beschreiben sucht, hat zahllose Formen und Gestalten. Die Wirklichkeit kann nur annähernd, unvollständig und im höchsten Sinn unbefriedigend beschrieben werden; der einzige Weg, mit der Wirklichkeit in Berührung zu kommen, ist, sie zu erfahren. Deshalb ist das zentrale Element aller Yoga-Wege die persönliche Erfahrung des Übenden, niemals das Wissen, welches ja nur den Weg weist.


Trotz der unendlichen Vielfalt und Komplexität der Wirklichkeit ist sie als ganzes eins, wenn auch jeder Mensch sie auf eine andere, seine persönliche Weise erfahren mag. Entsprechend der unterschiedlichen Sicht- und Erfahrungsweisen kann die eine Wirklichkeit auf vielerlei Weise beschrieben – und erreicht – werden.


So kann es zu einem scheinbaren Widerspruch zwischen zwei Philosophiesystemen kommen, welcher für nächtelange Debatten sorgt, der aber auf verstandesmäßigem Weg niemals befriedigend erklärt werden kann – der einzige Weg, diese Widersprüche aufzulösen, ist es, sich auf die höhere Warte der eigenen Erfahrung zu begeben. Von dieser Warte aus gesehen lösen sich die Widersprüche auf und es entsteht ein tieferes Erkennen der Wirklichkeit: Vor dem Erleuchteten, der dieses höchste Wissen erlangt hat, liegt die gesamte Wirklichkeit wie ein offenes Buch.


Für den Suchenden, der von den unterschiedlichen Philosophiesystemen verwirrt sein mag, spielt die Beschreibung aber eine wichtige Rolle, nämlich die des Wegweisers. Es gilt jedoch stets daran zu denken: Das philosophische System ist ein Wegweiser und nicht die Wirklichkeit; das philosophische System versucht, gleich einer Landkarte, die Wirklichkeit zu beschreiben, um uns den Weg zu ihr zu zeigen. Die Wirklichkeit jedoch, zu der uns die Landkarte führen möchte, die können wir nur erfahren.

 

 

Auszug aus "Ganzheitlicher Yoga"

 

 


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