Das Gesetz des rechten Umgangs mit Problemen

Es gibt wohl keinen Menschen auf der Welt, der behaupten kann, er hätte keine Probleme. Probleme sind Teil unseres Lebens. Stelle dir ein Leben ohne Probleme vor: Es wird für dich gesorgt, du bist gesund, reich und ewig jung, musst nicht zur Arbeit, hast eine harmonische Beziehung, ein Traum von einem vollendeten, sorgenfreien Leben. Du würdest dich wie im Himmel fühlen. Drei Wochen lang, vielleicht drei Monate lang. Irgendwann aber würdest du dich unerfüllt fühlen. Etwas würde dir fehlen, und du könntest vielleicht nicht einmal klar sagen, was es ist – eine Herausforderung, eine Aufgabe, das Gefühl, etwas bestimmtes gemeistert zu haben?
Selbst wenn wir erleuchtet sind, werden wir noch Probleme haben. Wir werden sie aber anders erleben. Die spirituelle Disziplin, sei es Yoga oder eine der Weltreligionen, zielt nicht darauf ab, Probleme zu vermeiden oder abzuschaffen, sondern uns eine neue Sicht und einen bewussten Umgang mit unseren Problemen zu lehren. Denn, so sagt die Yoga-Philosophie: Durch nichts können wir so sehr wachsen wie durch den rechten Umgang mit unseren Problemen. Es ist wie körperliches Training, nur auf einer anderen, meist auf der psychischen Ebene.

Betrachte Probleme als Aufgaben!

Nimmst du es deinen Lehrern übel, wenn sie dir schwierige Aufgaben stel-len? Sie wollen dir zu Wachstum verhelfen. Jedes Problem, das dir begegnet, ist ein Lehrer, der möchte, dass du wächst und stärker wirst. Nimm die Herausforderung an!
 
Durch eine Oase ging ein finsterer Mann; er hieß Ben Sadok. Er war so finster und gallig in seinem Charakter, dass er nichts Gesundes und Schönes sehen konnte, ohne es zu zerstören oder zu verderben.
Am Rand der Oase stand ein junger Palmbaum im besten Wachstum. Dieser Baum stach dem finsteren Mann in die Au-gen. Er nahm einen schweren Stein und legte ihn der jungen Palme mitten in die Krone. Mit einem bösen Lachen ging er danach weiter.
Die junge Palme schüttelte und bog sich und versuchte, die schwere Last abzuschütteln. Vergebens. Zu fest saß der Stein in ihrer Krone. Da krallte sich der junge Baum tiefer in den Boden und stemmte sich gegen die steinharte Last. Er senkte seine Wurzeln so tief in den Boden, dass sie eine verborgene Wasserader erreichten. So konnte die Palme genügend Wasser erhalten.
Sie wuchs und stemmte ihren Stamm und ihre Krone so kräftig gegen den Stein, dass sie gewaltig wuchs und über jeden Schatten hinausragte. Das Wasser aus der Tiefe und die Sonne aus der Höhe machten eine königliche Palme aus dem jungen Baum.
Nach vielen Jahren kam Ben Sadok wieder, um nach der Palme zu sehen und glaubte, es wäre zum Krüppelbaum verwachsen. Aber Ben Sadok suchte vergebens. Da senkte die stolze große Palme ihre Krone, zeigte den Stein und sagte: „Ben Sadok, ich möchte dir danken. Die Last, die du mir gegeben hast, machte mich stark und kraftvoll.“ Ben Sadok ging beschämt nach Hause.
Afrikanisches Märchen

Über Probleme, Stress und Ego

Oft reagieren wir auf Probleme mit negativen Gefühlen. Diese negativen Emotionen haben aber zwei problematische Auswirkungen:

  • Zum einen erzeugen sie Spannungen, die keiner angenehm findet und die, wenn sie andauern, eine Reihe von Krankheiten nach sich ziehen können.
  • Zum anderen verhindert dieses Gespinst von negativen Gefühlen, dass wir uns dem Problem konzentriert widmen. Energie wird blockiert, zerstreut sich und wir treten am Stand.


In Summe ist das Aufregen über Probleme sicherlich keine gute Alternative! Warum regen wir uns dann aber auf? Die Ursache der negativen Emotionen liegt im Bereich des Ego. Und genau beim Ego müssen wir auch ansetzen, wenn wir mit einem Problem positiv und konstruktiv umgehen wollen. Indem wir nämlich egolos handeln, können wir wesentlich gelassener vorgehen, indem wir etwa das Problem nicht als einen Angriff auf unsere Person, unsere Würde, Rechte usw. betrachten, sondern einfach als eine Aufgabe, die zu lösen ist.
 

In allem den Keim des Gegenteiligen sehen

Eine geistige Technik von unschätzbarem Wert kann uns zu wahrem Gleichmut, zu innerer Gelassenheit führen: Wenn wir uns im Leid bewusst machen, dass wir in irgend einer Weise dadurch wachsen und dass kein Leid ohne Ende ist, und wenn wir uns in freudigen Erfahrungen ebenso in Erinnerung rufen, dass auch sie einmal zu Ende sein werden, dann werden wir es vermeiden, auf der „Hochschaubahn des Lebens“ allzu wilde Berg- und Talfahrten durchzumachen. Wir werden im Gegenteil mehr und mehr zu einer ruhigen, gelasseneren Haltung finden und von den Stürmen des Lebens weniger geschüttelt als früher, wir werden einen tieferen Sinn hinter allem sehen und vielleicht sogar die Schönheit, die sowohl in den Höhen als auch in den Tiefen des menschlichen Lebens verborgen ist, erkennen.


Yoga im Alltag

Wir besuchen Kurse, Ausbildungen, Seminare, lesen Bücher und suchen Lehrer, die uns die Weisheiten des Lebens lehren. All dies geschieht in der Erwartung, dass Lernen immer in einer Art Klassenzimmer, abgeschirmt von den Problemen des Lebens, stattfindet. Doch dies ist ein Irrtum. Unsere eigentliche Schulung findet „draußen“ statt. Jede Minute unseres Lebens präsentiert uns eine Lehre und die Möglichkeit, persönlich zu wachsen.
So lange wir Yoga lediglich als etwas betrachten, das wir gelegentlich üben, um fit zu werden und zu entspannen, schöpfen wir nur einen Bruchteil seines Potentials aus. Wir beginnen jedoch seine volle Kraft zu nutzen, wenn wir uns in jeder schwierigen Situation fragen: Was wäre die ideale Antwort des Yoga auf diese Situation? Wie würde ein Yoga-Meister mit diesem Problem umgehen? Was will mich dieser Mensch, dieses Problem, diese Situation lehren? Betrachte jede Situation als Aufgabe, als Möglichkeit und als Einladung, persönlich zu wachsen. Wende das Wissen des „Yoga im Alltag“ entsprechend der jeweiligen Situation bewusst und achtsam an. Wenn du spürst, welcher Gedanke der Yoga-Philosophie dir in der betreffenden Situation von besonderem Nutzen sein kann, kann Yoga zu einem Instrument werden, das dein Leben in kürzester Zeit vollkommen verwandelt.

 

 

Auszug aus dem Buch "Yoga fürs Leben" von Arjuna P. Nathschläger


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