Der Weg der Freude

Der Mensch bewegt sich in seinem Leben auf eine bestimmte Weise, die er von Kindesbeinen an beobachtet und lernt – im Modus der Angst, der Ablehnung, des Kampfes und der Kontrolle, des Ego und des Leidens. Dieser Modus, der immer wieder Leid und Krankheit mit sich bringt, ist auf allen Ebenen des menschlichen Lebens wirksam: In der Erziehung, der Ausbildung, in Medien, Werbung, Beruf und Wirtschaft, Gesundheitswesen, oft sogar in der Spiritualität. Wir leben seit vielen Jahren auf diese Weise und sie ist uns so tief eingeprägt, dass sie uns ganz natürlich erscheint. Den meisten Menschen ist gar nicht bewusst, dass es zu diesem geistigen Modus eine Alternative gibt – den mit Vertrauen, Annahme, Stille und Bewusstheit verbundenen Weg der Freude:

Weg des Leids und Weg der Freude

Polarität, Endlichkeit und Schmerz

Polarität
Das Konzept des Yoga fürs Leben basiert auf der Tatsache, dass alle Erscheinungen der Welt polar und damit unvollkommen sind und immer räumliche und zeitliche Grenzen aufweisen. Dies muss so sein, denn anders gäbe es keine Existenz - erst Wärme und Kälte ermöglichen beispielsweise Temperaturempfinden, nur wo Licht und Dunkelheit bestehen, gibt es Sehen. Erst die Trennung in die Polarität ermöglicht dem Leben, sich wahrzunehmen und auszudrücken.


Unvollkommenheit
Auch Entwicklung und die Entfaltung des Bewusstseins – vom Stein über die Pflanze, das Tier, den Menschen und was danach kommen mag, zurück in die Einheit – basieren auf Unvollkommenheit, denn was vollkommen ist, kann sich nicht mehr entwickeln. Jeder Schritt auf diesem Weg ist begleitet von der Freude an der Existenz – der Daseinsfreude.  


Schmerz
Räumliche und zeitliche Grenzen ermöglichen aber nicht nur Existenz und Entwicklung, sie bringen auch den Schmerz mit sich, der entsteht, wenn wir an diese Grenzen stoßen. Wenn wir krank sind zum Beispiel, wenn eine Lebensphase endet oder jemand stirbt.

Polarität und Unvollkommenheit
…    ermöglichen Existenz
…    ermöglichen Entwicklung = Bewegung
…    ermöglichen dem SEIN, sich auszudrücken und wahrzunehmen = Daseinsfreude
…    bringen räumliche und zeitliche Grenzen mit sich = Schmerz


Der Mensch ist auf dem Weg zurück in die Einheit in eine Sackgasse geraten, denn er versucht der Unvollkommenheit und Endlichkeit zu entkommen und das Glück festzuhalten. Wir haben diesen Weg der Angst und Ablehnung als den Weg des Leidens bezeichnet, denn dieser Weg drückt sich in unserem Leben in zumeist leidhaften Formen aus. Je besser wir diese Formen verstehen, desto leichter erkennen wir, wann der Weg des Leidens in uns wirksam ist und können bewusst gegensteuern. Sehen wir uns also zunächst die verschiedenen Aspekte des Weges des Leidens an.  

 

 

Der Weg des Leidens

Der Weg des Leidens ist an einer Reihe von Ausdrücken und Erfahrungen zu erkennen, die miteinander verbunden sind und einander bedingen. Wenn du einen oder mehrere der folgenden Faktoren in deinem Leben erkennst, ist dies ein Zeichen, dass du dich – zumindest teilweise – auf dem Weg des Leidens befindest:

1. Angst, Ablehnung und der Wunsch nach Kontrolle
Wir sehnen uns nach Sicherheit und Glück, so wie alle Wesen.

2. Festhalten an Vorstellungen und Idealen
Um dies zu erreichen, halten wir an Vorstellungen davon fest, wie die Welt ist und formulieren Ideale, deren Realisierung uns glücklich machen soll.

3. Unbewusstheit
In Folge identifizieren wir uns zunehmend mit unseren Vorstellungen und Idealen und verlieren so immer mehr die Bewusstheit.

4. Eingeschränkte Wahrnehmung
Unser Vorstellungen verzerren unsere Sicht und unsere Ideale bewirken, dass wir jede Wahrnehmung bewerten.

5. Eingeschränkte Handlung
Damit wird unser Handlungsspielraum immer kleiner, wir verlieren den Kontakt zu unserer inneren Führung und versäumen den Großteil unseres Lebens.

6. Scheinbare Sicherheit und bedingte Freude
Unser Gewinn besteht aus scheinbarer Sicherheit und einer Freude, die durch unsere mangelnde Gegenwärtigkeit getrübt ist.

7. Verlust der Daseinsfreude
Da wir den Sinn des Lebens – unser Dharma – nicht mehr erfüllen, verlieren wir Lebensenergie und Daseinsfreude.

8. Unglück und Krankheit
Als Nebenwirkungen des übersteigerten Denkens entstehen Unzufriedenheit, Langeweile, Einsamkeit, Stress und eine Vielzahl von Erkrankungen.


Fazit
Unser Versuch, mithilfe des Denkens Geborgenheit zu finden, unser Glück zu kontrollieren und Schmerz zu vermeiden,

  • führt dazu, dass der Sinn des Lebens verloren geht – das Sich-zum-Ausdruck-Bringen und Sich-Wahrnehmen des Seins in immer höheren Stufen der Bewusstheit.
  • Mit dem Sinn schwindet auch die bedingungslose Freude – die Daseinsfreude – aus unserem Leben und wir müssen zusätzlich zum „natürlichen“ Schmerz auch noch die vielen Aspekte des Leids ertragen.
  • Die teuer erkaufte bedingte Freude können wir meist gar nicht richtig genießen, denn wir sind durch unsere Gewohnheit, ständig zu denken, selten gegenwärtig.
  • Und auch Sicherheit kann uns das Denken nicht geben, was jeder früher oder später durch die kleinen und großen Schicksalsschläge des Lebens am eigenen Leib erfährt.

 

 

Der Weg der Freude

Dieser Weg ist die Alternative zum Weg des Leidens. Dieser Weg führt dazu, dass wir die Daseinsfreude und damit den Sinn des Lebens wiederfinden, während in gleichem Maße unser Leid abnimmt und wir lernen, mit den Stürmen des Lebens umzugehen. Hier ein kurzer Überblick der verschiedenen Elemente auf dem Weg der Freude.

1. Vertrauen und Annahme
Das oberste Prinzip auf dem Weg der Freude besteht darin, dem Leben zu vertrauen und es in all seiner Schönheit, seiner Unvollkommenheit und Endlichkeit anzunehmen.

2. Stille
Wenn wir lernen, das Denken als Werkzeug zu benutzen, statt von ihm beherrscht zu werden, können wir, wann immer wir es nicht brauchen, heimkehren in die Stille.

3. Bewusstheit
Anstatt uns in unseren Vorstellungen und Idealen zu verlieren, bleiben wir bewusste Beobachter. Damit verhindern wir, dass wir uns in der inneren oder äußeren Welt verlieren und unsere Aufmerksamkeit und Energie zerstreut werden.

4. Wahrnehmung
Anstelle der Wahrnehmung, die durch unsere Vorstellungen eingeschränkt ist, haben wir einen  „Anfängergeist“ – eine innere Einstellung der Offenheit, in der wir bereit sind, alles so zu sehen, als wäre es das erste Mal. Und anstelle der Wahrnehmung, die durch unsere Wertungen verzerrt ist, entsteht die Wertfreiheit – das Wahrnehmen der Welt, wie sie im jeweiligen Augenblick gerade ist.

5. „Wahrgebung“
Anstelle der zielgerichteten Handlung entsteht Raum für die „Wahrgebung“ - das Handeln, das nicht darauf abzielt, ein Ideal zu realisieren oder eine Vorstellung zu verteidigen, sondern das sich selbst zum Ziel hat. Es ist das Handeln um der Handlung willen – das Handeln, das der inneren Führung folgt mit dem Ziel, die eigene Natur zum Ausdruck zu bringen.

6. Geborgenheit im Augenblick und ungetrübte bedingte Freude
Am Weg der Stille können wir die kleinen und großen äußeren Freuden des Lebens – das neue iPad, die tolle Yogamatte, den verdienten Urlaub oder das Haus im Grünen – erstmals richtig genießen, denn wir verlieren uns nicht in der Vergangenheit oder Zukunft und können ganz bei unserer aktuellen Wahrnehmung sein.

7.  Daseinsfreude
Je mehr wir die Welt wahrnehmen und unsere innere Wahrheit zum Ausdruck bringen, umso mehr entsteht die bedingungslose Freude am Leben – die Daseinsfreude. Diese stille Freude ist unabhängig von den Umständen, in denen wir uns gerade befinden und steht uns in jedem Augenblick des Lebens zur Verfügung.

8. Glück und Gesundheit
Die Nebenwirkungen des Denk-Modus – die verschiedenen Aspekte des Leids – verschwinden auf dem Weg der Annahme von selbst. An ihrer Stelle entsteht Raum für Glück und Gesundheit.
 


Autorin

Dr. Gilda Wüst


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