Besuch

Ein frommer Rabbi besuchte jeden Tag den Tempel und hatte es in seinem Glaubensleben schon weit gebracht. Nichts wünschte er sich sehnlicher, als seinem Gott einmal leibhaftig zu begegnen und bat ihn in langen Meditationen und Gebeten: „Jeden Tag komme ich in den Tempel, um Dir zu begegnen. Jetzt wäre es mir eine große Freude,  wenn auch Du einmal in mein Haus kommen und mich besuchen würdest.“ Und er hörte eine innere Stimme, die sagte: „Ich werde kommen. Mache nur alles bereit.“
Der fromme Rabbi lief nach Hause und begann alle Vorbereitungen für den Besuch Gottes zu treffen.


Der nächste Tag begann in der Früh mit der rituellen inneren und äußeren Reinigung, die leider nicht ganz ungestört verlief, da ein Kind, angelockt vom Duft der vorbereiteten Süßspeisen, um einen Kuchen bat. „Morgen bekommst du einen Kuchen“ sagte der Rabbi. „Heute kommt hoher Besuch. Geh jetzt, sonst störst du uns.“


Gott ließ auf sich warten. In die erwartungsvolle Atmosphäre platzte ein müder Reisender, als es auf Mittag zuging. „Nein, nicht heute.“ sagte der Rabbi. „Morgen bist du an der Reihe. Ich bekomme heute wichtigen Besuch. Geh, sonst störst du.“


Der Tag verging, aber Gott ließ sich nicht blicken. Schließlich, der Rabbi war schon sehr nervös, klopfte ein schmutziger, zerlumpter Bettler an die Tür und bat um eine Kleinigkeit zu Essen. Der Rabbi scheuchte ihn weg. „Nein, nicht heute. Morgen ist genug da für dich. Heute störst du.“


Schließlich legte sich der fromme Mann enttäuscht schlafen. Gott war nicht gekommen. Am nächsten Tag eilte er in den Tempel und er war voller Vorwürfe und Anklagen: „So oft bin ich schon zu dir gekommen! Ist es da zuviel verlangt, wenn du einmal mich besuchen kommst?“
„Drei Mal war ich bei dir. Aber du hast mich jedesmal fortgeschickt. Du hast mich nicht erkannt!“ sagte die Stimme Gottes in ihm.

Aus "Die spirituelle Schatzkiste" von Arjuna P. Nathschläger

 



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