Die Farben der Freude

Teil 2

Die zweite Farbe der Freude: Wahrnehmen und Freundschaft schließen

Im letzten Artikel haben wir herausgefunden, dass jeder Mensch sieben Fähigkeiten besitzt - die Fähigkeit, wach und präsent zu sein und Einsicht zu haben; Güte und Mitgefühl zu empfinden, weise zu handeln, sich zu entspannen und dem Leben zu vertrauen. All diese Qualitäten führen dazu, dass wir unser Herz immer weiter öffnen. Dies wird in der buddhistischen Tradition als „Bodhicitta“ - das erwachte Herz - beschrieben.


Unser Versuch, dauerhaft Sicherheit und Glück zu erlangen und Schmerz zu vermeiden, hat jedoch dazu geführt, dass wir viele dieser Qualitäten verschüttet haben. Die Meditation bietet uns eine wunderbare Möglichkeit, jede einzelne dieser Fähigkeiten wieder in uns zu entdecken.


Mit der „Twenty to Zero“ - einer Variante der Atemachtsamkeit - haben wir bereits die erste
Qualität - die Fähigkeit, wach und präsent zu sein - in uns berührt (Link zum letzten Artikel). Nun wenden wir uns der zweiten Qualität zu: der Fähigkeit, die Welt so wahrzunehmen wie sie ist und Freundschaft mit ihr zu schließen. Um ein Gefühl für diese Fähigkeit zu bekommen, sehen wir uns zunächst ihren Gegenpol - die Verblendung - an. Unsere Gewohnheitsmuster bewirken, dass wir jede Erscheinung sofort danach beurteilen, ob sie uns dient, unsere Muster gefährdet oder sie nicht berührt. Dementsprechend reagieren wir mit Anhaftung, Ablehnung oder Indifferenz. Um diese Neigung in dir zu beobachten, kannst du folgende Übung machen:

 

Gehe in einer belebten Strasse spazieren und beobachte, wie schnell du Menschen, die dir begegnen, in eine Schublade steckst und/oder als sympathisch, unsympathisch oder uninteressant bewertest. Hinter jeder dieser Reaktionen steht ein Muster - eine Vorstellung, die dazu dienen soll, dich vor schmerzhaften Erfahrungen zu schützen.
Achte bei dieser Übung darauf, sie nicht gegen dich zu verwenden, indem du dich für dein Werten
verurteilst. Betrachte deine Reaktion stattdessen mit Freundlichkeit, Interesse und Humor.

 

Unsere „Verblendung“ betrifft nicht nur äußere Wahrnehmungen, sondern auch die Art und Weise, wie wir uns selbst sehen: Wir verurteilen uns für jede Unzulänglichkeit und haften an Eigenschaften an, die wir als positiv betrachten. Unabhängig davon, ob unsere Verblendung unser Inneres oder die äußere Welt betrifft, verhindert sie Wahrnehmung und Liebe.


Wenn du wieder in Kontakt mit deiner Fähigkeit zu lieben kommen möchtest, bietet dir die Meditation einen geschützten Raum, um den ersten Schritt auf diesem Weg zu machen. Einen guten Einstieg in das wertfreie Gewahrsein bietet uns die Meditation auf Geräusche:

 

Dazu kommst du in deine bevorzugte Meditationshaltung und beobachtest, welche Geräusche ganz von selbst auf dein Ohr treffen. Sobald du ein Geräusch wahrnimmst, verzichtest du - so gut es geht - darauf, in eine Geschichte über das jeweilige Geräusch zu gehen und/oder es zu bewerten. Mit ein wenig Übung wirst du beobachten können, dass Geräusche dich nicht mehr bei der Meditation stören, sondern sogar tiefer in sie hineinführen. Dabei hilft die Empfehlung der Zen-Äbtissin Jan Chozen Bays, „mit Geräuschen umzugehen, als wärst du von einem fremden Planeten gekommen und wüsstest nicht, was sie verursacht.“ Dieses wertfreie Gewahrsein kannst du im nächsten Schritt auf andere Wahrnehmungen ausweiten, zum Beispiel auf Körperempfindungen oder Gefühle.


Im folgenden Video findest du eine kurze geführte Meditation auf Geräusche. Nimm es mit Humor, wenn es dir schwerfällt, sie nicht zu benennen oder zu bewerten, ich habe Geräusche gewählt, die nicht ganz einfach sind und schnell Assoziationen entstehen lassen. ;)

 

Die natürliche Folge des wertfreien Gewahrseins ist, dass wir Freundschaft mit allen Erscheinungen schließen - mit der Welt ebenso wie mit uns selbst. Dies führt uns ganz von selbst zur nächsten Qualität der Meditation - der Verbundenheit. Wie uns die Meditation helfen kann, diese Qualität in uns wiederzufinden, liest du im nächsten Newsletter.


Tipp: Auf tibetisch heißt Meditation „gom“ und bedeutet übersetzt „vertraut werden“

 


Autorin

Dr. Gilda Wüst

Leiterin der Meditationslehrer-Ausbildungen an der Yoga-Akademie Austria

www.innerjoy.at


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