Der Nutzen der spirituellen Praxis

Teil 1 - Die Grundlagen

Viele von uns haben im Laufe ihres Lebens eine spirituelle Praxis wie etwa Yoga oder Meditation begonnen. Die wenigsten haben diese Praxis aber für einen längeren Zeitraum aufrecht erhalten. Der folgende Beitrag soll dazu dienen, all diesen Menschen überzeugende Gründe zu praktizieren zu liefern und es ihnen damit einfacher machen, ihre persönliche Praxis zu beginnen und auch beizubehalten.

Das Leben und der menschliche Geist

Wenn wir die Welt betrachten, wird schnell klar, dass jede ihrer Erscheinungen von Polarität geprägt ist: Weiblich und Männlich, Schwarz und Weiß, Hitze und Kälte und all die Schattierungen dazwischen. Dies bedeutet, dass jede Form der Existenz unvollkommen und endlich ist. Diese Tatsache ist unumgänglich, denn nur was Grenzen hat, ist wahrnehmbar, nur was endlich ist, kann sich entwickeln. So gesehen sind Unvollkommenheit und Endlichkeit die Quelle allen Lebens.


Wir Menschen sind die einzigen Wesen, die versuchen, der Unvollkommenheit und Endlichkeit zu entkommen. Unsere Erfahrung hat gezeigt, dass das Denken ein guter Problemlöser ist und so versuchen wir auch dieses „Problem“ mit Hilfe des Denkens zu bewältigen:


• Wir versuchen Sicherheit zu erlangen, indem wir an Vorstellungen davon festhalten, wie wir selbst oder die Welt sind. Wir fühlen uns beispielsweise nicht mehr so verloren, wenn wir uns als Österreicher, Yogalehrer
oder Mountainbiker betrachten.
• Das Glück versuchen wir zu kontrollieren, indem wir Bedingungen formulieren, deren Realisierung uns glücklich machen wird. Das Haus im Grünen, die große Liebe, das neue Auto. Damit haben wir das
beruhigende Gefühl, den Schlüssel zu unserem Glück selbst in der Hand zu haben. Diese Taktik kann jedoch nicht funktionieren, denn Vorstellungen sind starr, während das Leben fließt. Die einzige wirkliche Sicherheit
ist und bleibt die Unsicherheit. Unsere Ideale wiederum erfüllen sich oft nicht und selbst wenn wir sie realisieren sollten, bescheren sie uns meist nur kurze Phasen des Glücks. Dann folgt die Ernüchterung und wir formulieren rasch neue, „bessere“ Ideale, um wieder ein Ziel zu haben, dem wir nachlaufen können.

 

Die Nebenwirkungen des übersteigerten Denkens

Abgesehen davon, dass unsere Flucht ins Denken uns weder Sicherheit noch die Kontrolle über unser Glück bescheren kann, hat sie auch noch gravierende Nebenwirkungen: Unsere Vorstellungen und Ideale trennen uns von allen Menschen, die andere Vorstellungen und Ideale haben. So können wir immer weniger mitfühlen und werden immer einsamer. Manche Vorstellungen und Ideale empfinden wir sogar als Gefahr für unser eigenes Weltbild und damit für unser Glück und unsere Sicherheit. Darauf reagieren wir natürlich mit Intoleranz und Angriff.

 

„Dieser Schleier aus Gedanken erschafft auch die Illusion von Trennung, die Illusion, dass es dich gibt und getrennt davon den/die anderen. Dann vergisst du die grundlegende Tatsache, dass du auf einer Ebene, die tiefer ist als körperliche Erscheinungen und separate Formen, eins bist mit allem, was ist.“ (Eckhart Tolle)

 

Unsere Ideale lassen uns die Gegenwart als langweilig empfinden oder gar ablehnen und nach dem streben, was sein sollte. So werden Ungeduld und das Warten auf den Moment, in dem unsere Ideale endlich realisiert sind, zu Grundschwingungen unseres Lebens.

 

„Warten ist eine Geisteshaltung. Es heißt eigentlich nichts anderes, als dass du die Zukunft ersehnst, während dir die Gegenwart nicht zusagt ... Manche Menschen warten ihr Leben lang darauf, dass ihr Leben endlich anfängt.“ (Eckhart Tolle)


Unser Bemühen macht das Leben anstrengend und kompliziert und der (Irr-)Glaube, dass unser Glück von unseren Anstrengungen abhinge, macht es zu einer todernsten Angelegenheit. Zusätzlich entsteht die Angst, unsere Ideale nicht realisieren zu können oder realisierte Ideale wieder zu verlieren. Wenn die Realität sich von unserem Ideal unterscheidet – was wie gesagt naturgemäß oft der Fall ist – entstehen Unzufriedenheit,
schlechtes Gewissen und die Schuldsuche im Außen. Und wenn wir versuchen, die Realität unseren Vorstellungen anzupassen oder eine Vorstellung beziehungsweise ein realisiertes Ideal zu verteidigen, dann ist dies die Ursache aller Gewalt. Die Folgen all dessen sind körperliche Anspannung und Stress.


Mittlerweile ist medizinisch erwiesen, dass bestimmte Erkrankungen, wie zum Beispiel Nacken- und Rückenschmerzen, das Reizdarm-Syndrom oder Spannungskopfschmerz auf Stress und körperliche Anspannung zurückzuführen sind. Neueste Studien zeigen, dass die Auswirkungen von Anspannung und Stress sogar noch viel weitreichender sein können. Laut Leonard Coldwell ist Stress der Hauptverursacher von bis zu 95 Prozent aller Erkrankungen. Wenn sich diese Daten bestätigen, dann bedeutet dies, dass die meisten unserer Erkrankungen durch das übersteigerte Denken hervorgerufen werden.


„Stress truly does affect our health and wellbeing. Studies have shown that 86 % of all illnesses are caused by stress, while a Stanford University study concluded that 95 % of all illnesses are stress related! Even if we use the modest 86 % figure, this means that only 14 % of all illnesses are caused by other factors not related to stress.“
Leonard Coldwell

Das tragischste an unserem übersteigerten Denken ist aber die Tatsache, dass das Leben sich durch das starre Korsett aus Vorstellungen und Idealen nicht mehr ausdrücken und auch nicht mehr wahrnehmen kann. Damit verlieren wir auch noch die bedingungslose Freude – die Daseinsfreude – die mit dem authentischen Selbstausdruck und der Wahrnehmung der Welt einhergeht. Die Folgen unseres übersteigerten Denkens
sind so tragisch und offensichtlich, dass es unverständlich ist, wieso wir weiter an unserer bisherigen Lebensweise festhalten. Bei genauerer Betrachtung wird unser Beibehalten alter Muster allerdings verständlich, denn:

 

  1. Wissen alleine ohne die direkte Erfahrung ist schwach: Denke an ein Kind, dem man sagt, dass Feuer heiß ist. Wirklich begreifen wird das Kind diese Wahrheit erst, wenn es sich zum ersten Mal verbrennt.
  2. Alte Gewohnheiten sind mächtig: Unsere Eltern wollten das Beste für uns – so haben sie uns die Vorstellungen und Ideale weitergegeben, an denen sie selbst festhalten und von denen sie glauben, dass sie glücklich machen würden. Manchmal sind dies Ziele, die sie selbst nicht realisieren konnten und aus diesem Grunde idealisieren. Viele dieser Vorstellungen und Ideale haben sie auch einfach von ihren eigenen Eltern übernommen. Diese Ideale sind uns vom ersten Lebenstag an eingeprägt worden und damit wirklich tief in uns verankert. Im Laufe des Erwachsenwerdens fügen wir diesen Mustern noch eine Vielzahl neuer Vorstellungen hinzu.
  3. Unser Leben ist fordernd und komplex: Wenn wir zum Beispiel wieder vermehrt unserer inneren Führung folgen möchten, ist dies bei den vielen Entscheidungen, die der moderne Alltag von uns fordert und der teils wirklich schweren Verantwortung, die wir tragen müssen, nicht so einfach umzusetzen.
  4. Uns fehlt die Energie zur Veränderung: Ein Großteil unserer Lebensenergie geht im übersteigerten Denken, im Aufrechterhalten unserer Vorstellungen und dem damit verbundenen Stress verloren.
  5. In letzter Konsequenz haben wir auch einfach Angst loszulassen, denn zu schweigen und bewusst zu sein bedeutet den Tod des Egos. Und da wir uns mit unserem Ego identifizieren, unterliegen wir dem Irrglauben, mit unserem Ego zu sterben.


Diese (guten) Gründe unseres Festhaltens an alten Mustern vermittelt nun vielleicht den Eindruck, unserer leidverursachenden Lebensweise gar nicht entkommen zu können. Glücklicherweise gibt es jedoch die spirituelle Praxis, die uns hilft, jedes einzelne dieser Hindernisse zu überwinden, denn:

  1. Die Praxis lässt uns von der Stille kosten und gibt uns so einen Vorgeschmack auf ein Leben, in dem das Denken uns dient, anstatt uns zu beherrschen. Jede Form der spirituellen Praxis ist dabei zugleich Weg und Ziel, schenkt uns also den Raum, um still zu sein und stärkt zugleich direkt die Stille in uns.
  2. Mit unserer Praxis schaffen wir neue Gewohnheiten, die unsere eingefahrenen Gedankenmuster durchbrechen.
  3. Die Yogamatte und das Meditationskissen bieten uns einen vereinfachten und geschützten Rahmen, in dem wir es wagen können, Wertfreiheit, Nicht-Tun, Gegenwärtigkeit und Bewusstheit zu leben. Die Praxis ist damit so etwas wie ein Flugsimulator für angehende Piloten, von denen auch niemand verlangt, gleich beim ersten Versuch eine voll besetzte Boeing 747 zu steuern.
  4. Die Tatsache, dass die Energie der Aufmerksamkeit folgt, führt dazu, dass uns jeder Moment Praxis, in dem wir bewusst sind, statt uns in Gedankenketten zu verlieren, Energie schenkt.
  5. Nicht zuletzt lässt uns jeder Moment, in dem wir mit Hilfe der Praxis still sind, erkennen, dass wir nicht sterben, wenn wir unsere Ideale und Vorstellungen loslassen, sondern vielmehr erstmals wirklich leben.

>> Zum 2. Teil

 

Autorin

Dr. Gilda Wüst ist Leiterin unserer Meditationslehrer-Ausbildungen

www.innerjoy.at

Dr. Gilda Wüst

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